Gesundheit von Lehrpersonen:
Weniger Perfektion – mehr Gelassenheit

Gesundheit von Lehrpersonen: Weniger Perfektion – mehr Gelassenheit

Beruf, Familie und der normale Wahnsinn des Alltags fangen morgens an und enden eigentlich nie. Cathy Caviezel kennt Mehrfachbelastungen und beschäftigt sich beruflich mit den vielfältigen Belastungen von Lehrpersonen.
Von Brigitte Müller

laut & leise: Frau Caviezel, was fällt Ihnen ein, wenn Sie das Wort Perfektion hören?
Cathy Caviezel: Spontan denke ich an einen uneinlösbarenAnspruch. Perfektionismus entspringt einem inneren Antrieb und Qualitätsanspruch und ist sehr individuell,meistens geprägt durch das Elternhaus. Menschen, die gerne alles perfekt haben, hadern oft mit dem Scheitern, und es ist für sie anspruchsvoll, ihren inneren Anspruch zu regulieren. Auch im Zusammenleben kann dies zu Konflikten führen, wenn der innere Massstab an die Perfektion sich nicht mit jenem der Umwelt deckt. Es ist allerdings schwierig, diesen persönlichen Anspruch «runterzuschrauben». Es lohnt sich jedoch, nach realistischen Zielen zu suchen, um sich zu entlasten.

l & l: Was verstehen Sie unter Mehrfachbelastung?
Caviezel: Die Vereinbarkeit beispielsweise von Beruf, Familie und Alltag. Alle Lebensbereiche tragen viele Anforderungen in sich, die es nebeneinander zu bewältigen gilt. Sind wir für eine gewisse Zeit mit zu vielen Anforderungen konfrontiert, ist das zwar stressig, muss aber noch nicht gesundheitsgefährdend sein. Sind wir aber dauerhaft belastet und haben gleichzeitig das Gefühl, dem nicht genug entgegensetzen zu können, dann leidet unsere physische und psychische Gesundheit.
 
l & l: Welche Mehrfachbelastungen kennen Sie selbst? Welche empfinden Sie als positiv?
Caviezel: Ich bin Mutter eines bald neunjährigen Sohnes und zu 60 Prozent an der Pädagogischen Hochschule Zürich angestellt. Ich erlebe den Wechsel zwischen meinen privaten und beruflichen Aufgaben bei allen Herausforderungen als sehr bereichernd. Wenn ich in der Hochschule bin, kann ich in all die spannenden Themen eintauchen. Bei der Arbeit tanke ich Energie für den Familienalltag. Dort hingegen geniesse ich die anders getakteten Aufgaben und natürlich das Zusammensein mit meiner Familie.
 
l & l: Kennen Sie das Gefühl, dass es Ihnen zu viel wird? Ihre Mehrfachbelastungen sich negativ auswirken?
Caviezel: Natürlich. Anspruchsvoll finde ich vor allem das «Switchen» zwischen den Welten. Ich kann mich beispielsweise noch gut erinnern, als mein Sohn ein Kleinkind war. Es fiel mir manchmalschwer, mich vom schnellen Arbeitstakt auf das langsamere Tempo beim Spielen mit meinem Sohn einzustellen. Im Hinterkopf türmten sich die Pendenzen der Arbeit, ich aber sass auf dem Spielplatz und schaute ihm beim «Sändele» zu. Der Familienalltag hilft mir jedoch oft, im Hier und Jetzt anzukommen. Die Vereinbarkeit aller Aufgaben ist aber immer wieder eine Herausforderung und ich versuche – mal entspannter, mal chaotischer – allem gerecht zu werden.
 
l & l: Stellen Sie eine Zunahme oder Veränderung der Mehrfachbelastungen fest?
Caviezel: So generell kann ich diese Frage nicht beantworten. Die Wahrnehmung von Stress und von Mehrfachbelastungen ist sehr individuell. Was für jemanden eine Belastung ist, ist für den anderen eine Herausforderung und für einen Dritten vielleicht sogar eine Unterforderung. Speziell bei Lehrpersonen stelle ich unter anderem fest, dass die heterogenen Schulklassen sehr anspruchsvoll sind.
 
l & l: Warum?
Caviezel: Das Leistungsniveau und der individuelle Förderbedarf der Schülerinnen und Schüler sind sehr unterschiedlich. Die Spannbreite geht vom durchschnittlichen Schulkind bis zu jenen mit Schwierigkeiten und speziellen Belastungen, beispielsweise ADHS, oder zum traumatisierten Flüchtlingskind. Es ist ein riesiger Anspruch an eine Lehrperson, allen Kindern in der Klasse gerecht zu werden, die Klasse zusammenzuhalten, Respekt, Ruhe und Ordnung zu verlangen und erst noch den Lernstoff zu vermitteln. Als Lehrerin, Lehrer kann man sich nicht verstecken, wenn man einmal einen schlechten Tag hat. Man ist dauernd als Person gefordert und muss stets präsent, authentisch und empathisch sein. Besonders frisch in den Beruf einsteigende Lehrpersonen werden von diesen Anforderungen oft regelrecht überrollt. Plötzlich die volle Verantwortung für die Klasse übernehmen zu müssen und eine wichtige Bezugsperson für die Kinder zu sein, ist eine anspruchsvolle Aufgabe, mit der man erst in der Praxis wirklich konfrontiert wird.
 
l & l: Müssten junge Lehrpersonen besser unterstützt werden?
Caviezel: Für Berufseinsteigende gibt es in den ersten Jahren ein Programm mit Coaching und Weiterbildung an der PHZH im Auftrag des Volksschulamt (VSA). Dieses begleitet die Lehrpersonen auf dem Weg in die Praxis. Dies auch, um zu verhindern, dass junge Lehrerinnen und Lehrer ihren Beruf nach ein paar Jahren desillusioniertan den Nagel hängen. Viele von ihnen setzen sich selber unter Druck und getrauen sich oft nicht, nach Unterstützung zu fragen. Dabei ist es hilfreich – und das nicht nur für junge Lehrpersonen – wenn in einem Schulhaus ein vertrauensvolles Klima herrscht, man über Probleme redet und Unterstützung einfordern kann. Das schwierige Kind in meiner Klasse ist nicht nur mein Problem, sondern eine Herausforderung für die ganze Schule.
 
l & l: In welchen Lebenssituationen können Mehrfachbelastungen eher als belastend erfahren werden?
Caviezel: Ob als Jugendliche, als Berufseinsteiger oder als ältere Person: Es sind vor allem die Übergänge, die spezielle Herausforderungen in sich bergen. Übergänge, wie eine Familie gründen oder in Pension gehen, können Krisen auslösen. Oder wenn es in mehreren Lebenswelten nicht mehr stimmt. Man hat Schwierigkeiten im Job, in der Beziehung kriselt es und die Eltern benötigen gleichzeitig vermehrt Pflege, dann fehlen einem Zeit und wichtige Zapfsäulen, um wieder aufzutanken.
 
l & l: Wer kann besser damit umgehen, Männer oder Frauen?
Caviezel: Grundsätzlich sind der Umgang mit und die Bewältigung von Stress und Mehrfachbelastungen abhängig von individuellen Faktoren. Es klingt zwar etwas klischiert, aber es ist wohl schon so, dass Frauen sich eher Unterstützung holen als Männer. Das ist eine sehr wichtige Ressource im Umgang mit Belastungen. Auch in der Beratung und in der Weiterbildung an der PHZH ist der Frauenanteil klar höher als der Männeranteil. Das kann aber auch heissen, dass Männer sich weniger belastet fühlen oder eher Zugang zu anderen Bewältigungsmustern haben, die ebenfalls hilfreich sein können.
 
l & l: Gibt es so quasi ein Diktat der Vielbeschäftigung?
Caviezel: Zu mir kommen Lehrpersonen in die Beratung, die sehr engagiert und mit viel Freude ihren Beruf zu 100 Prozent ausüben. Trotzdem spüren sie, dass sie überlastet sind, und spielen mit dem Gedanken an eine Reduktion ihres Pensums, damit sie mehr Zeit für ihre persönliche Erholung hätten. Gleichzeitig ist es in ihrem Selbstverständnis verankert, dass es «normal» ist, 100 Prozent zu arbeiten. Sie kommen sich also fast als Versager vor, wenn sie das Gefühl haben, dass sie den Beruf und alle anderen alltäglichen und persönlichen Anforderungen nicht ohne Probleme bewältigen können. Sie sagen sich dann, es muss doch möglich sein, ein 100-Prozent-Pensum zu meistern. Grundsätzlich haben Beruf und die Vielbeschäftigung sicher einen hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft.
 
l & l: Mehrfachbelastungen und Sucht – können Sie einen Zusammenhang erkennen?
Caviezel: Der Konsum von Suchtmitteln kann ein Ventil sein, um abzuschalten oder sich nach einem harten Tag zu belohnen. Gefährlich wird es, wenn es die einzige Bewältigungsstrategie ist, um sich kurzfristig Erleichterung zu verschaffen – und wenn sie dauerhaft eingesetzt wird.
 
l & l: Welche einfachen Bewältigungsstrategien empfehlen Sie?
Caviezel: Wichtig ist es, sich bewusst zu sein, wo die persönlichen Grenzen sind, und darauf zu achten, dass diese Grenzen nicht überschritten werden. Und man sollte seine persönlichen «Tankstellen» kennen. Wie erhole ich mich? Bei welchen Aktivitäten kann ich runterfahren? Auf der anderen Seite: Was stresst mich? Welche Menschen entziehen mir Energie? Es kann sehr helfen, sich zu überlegen, ob man überhaupt einen Einfluss auf eine belastende Situation hat. Wenn Ja, kann die Lage aktiv angegangen werden. Hat man allerdings keinen Einfluss auf eine Situation, sollte man seine Einstellung dazu ändern oder die Konsequenzen daraus ziehen, mit dem Ziel, dass man sich wieder nach vorne orientieren kann. Hilfreich ist zudem, über seine Belastungen zu reden und sich Hilfe und Unterstützung zu holen. Vielleicht gibt es relativ einfache Entlastungsmöglichkeiten im Umfeld, die man sich so erschliessen kann.
 
l & l: Sie sind auch akkreditierte Beraterin von «Schule handelt – Stressprävention am Arbeitsplatz». Was überzeugt Sie an diesem Projekt?
Caviezel: Es ist definitiv mehr als die Einführung des Pausenapfels! Die Schulführung ist bereit, sich auf einen Prozess einzulassen und die Gesundheit der Mitarbeitenden umfassend anzuschauen, nicht nur auf der individuellen Ebene der einzelnen Lehrperson, die für ihre Gesundheit letztlich selbst verantwortlich ist. Die Befragung ermöglicht eine vertiefte Auseinandersetzung – auch mit den strukturellen Rahmenbedingungen an der Schule. Und es werden auf die Schule zugeschnittene Massnahmen erarbeitet. Das kann beispielsweise die Schaffung eines Ruheraums sein oder die Einführung einer kollegialen Beratung. Letztere soll eine gemeinsame Fehlerkultur schaffen, in der es nicht als Schwäche gilt, über Momente der Ratlosigkeit zu sprechen. Dabei treffen sich feste Gruppen von Lehrpersonen zum selbst moderierten Austausch und profitieren so gegenseitig von den Erfahrungen der anderen.
 
Cathy Caviezel ist Psychologin und systemische Organisationsberaterin/Coach und arbeitet an der Pädagogischen Hochschule des Kantons Zürich als Beraterin und Dozentin in verschiedenen Feldern. Sie ist spezialisiert auf Gesundheitsförderung und die Gesundheit von Lehrpersonen.
Brigitte Müller, Texterin und Redaktionsleiterin «laut & leise», stellte die Fragen.
 
 

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