Suchtprävention im Lebensverlauf: Von der Kindheit bis ins hohe Alter

Der Lebensverlaufansatz berücksichtigt alle Generationen mit Fokus auf die Übergangsphasen im Leben. Auch die Suchtprävention trägt dem Präventionsbedarf in allen Lebensphasen vermehrt Rechnung.
Von Christa Berger

Das Leben ist von altersspezifischen Lebensphasen gekennzeichnet, die aufeinanderfolgen. Um 1900 war noch nicht von einer Jugendzeit die Rede, damals ging man von der Kindheit direkt ins Erwachsenenalter über. Bildungsexpansion und höhere Lebenserwartung haben dann zu einer Ausdifferenzierung der Lebensphasen geführt, wobei sich insbesondere die Jugend- und die Altersphase immer weiter ausgedehnt haben. Mittlerweile unterscheiden wir sechs Lebensphasen: Kindheit, Jugend, Spätadoleszenz, mittleres Erwachsenenalter, frühes Alter und hohes Alter.

Der Lebensverlaufansatz

Mit der 2015 verabschiedeten Erklärung von Minsk propagierte die WHO den Lebensverlaufansatz (engl. Life-Course Approach) zur Leitplanke für die Umsetzung der Agenda «Gesundheit 2020». Der Lebensverlaufansatz hat die gesamte Lebensspanne des Menschen im Blick und ermöglicht ein besseres Verständnis für die kumulierenden Effekte von Risiko- und Schutzfaktoren über das gesamte Leben hinweg. Er betont die Wichtigkeit einer früh einsetzenden und langfristig ausgerichteten Präventionsstrategie, die alle Lebensphasen umfasst und Menschen bis ins hohe Alter berücksichtigt. Der Lebensverlaufansatz ist einer generationenübergreifenden Sichtweise verpflichtet und sieht Massnahmen in den Übergangsphasen des Lebens vor. Er hat seinen Niederschlag auch in der Strategie zur Prävention nichtübertragbarer Krankheiten (NCD-Strategie) des Bundes gefunden.

Lebensüberänge im Fokus

Beim Lebensverlaufansatz stehen die Lebensübergänge im Fokus. Sie markieren bedeutsame Entwicklungsetappen, die mit tiefgreifenden Veränderungen einhergehen und individuelle Anpassungsleistungen erforderlich machen. Es gibt Veränderungen in Bezug auf Rolle und Status, so beispielsweise beim Eintritt ins Berufsleben, bei der Erst-Elternschaft oder bei der Pensionierung. Je nachdem, welche Rahmenbedingungen vorliegen und über welche körperlichen, psychischen und sozialen Ressourcen jemand verfügt, können biografische Umbrüche für die Betroffenen eine positive Entwicklung ermöglichen oder ein Risiko für emotionale Überforderung und psychische Belastung darstellen.
Die erfolgreiche Bewältigung von Lebensübergängen stellt auf jeden Fall eine wichtige Ressource dar, die man in die nächste Lebensphase mitnimmt und die einem beim nächsten biografischen Wendepunkt unterstützt. Das persönliche Rüstzeug für gelingende Lebensübergänge sind Lebenskompetenzen wie beispielsweise die positive Selbstwirksamkeitserwartung, die Fähigkeit Probleme zu bewältigen und zu lösen oder Emotionen zu regulieren. Neben einem unterstützenden Umfeld schaffen sie die Voraussetzung für Akzeptanz, Zuversicht und Vertrauen wie auch eigenverantwortliches Handeln in Zeiten des Umbruchs.

Risiko Sucht

Schon ab der frühen Kindheit ist an den Lebensübergängen eine resilienz- und entwicklungsfördernde Stärkung wie auch
Risikoverminderung angezeigt. Denn Massnahmen zum Schutz der Gesundheit in den Übergangsphasen des Lebens wirken sich positiv auf später aus. Insofern bieten die normativen Lebensübergänge auch für die Suchtprävention ideale Ansatz- und Zeitpunkte, um Menschen zu sensibilisieren, weil man in Übergangsphasen besonders offen für Verhaltensänderungen ist.
Zudem können Phasen der Veränderung auch immer ein Treiber für verstärkten Substanzkonsum sein. Man denke beispielsweise an die Pubertät, den Übergang ins Erwachsenenalter oder an die Pensionierung. So sind bei jungen Erwachsenen das Rauschtrinken, also der punktuell exzessive Alkoholkonsum, sowie tägliches Rauchen sehr ausgeprägt. Im Rentenalter ist ein regelmässiger, hoher Alkoholkonsum am stärksten verbreitet.
Suchtprävention ist nach wie vor auf Kinder und Jugendliche ausgerichtet. Inhaltlich ist das sinnvoll, gilt doch ein früher Substanzkonsum als bedeutsamer Prädiktor für problematische Konsummuster im Erwachsenenalter. Die präventive Einflussnahme in dieser Lebensphase ist auch deshalb angezeigt, weil sich viele Verhaltensmuster während Kindheit und Jugend ausbilden und festigen.

Vernachlässigte mittlere Lebensphase

Trotzdem reicht es nicht, Suchtpräventionsangebote nur für Jugendliche anzubieten, um im Erwachsenenalter vor Risikokonsum und Sucht zu schützen. Es ist deshalb in allen Lebensphasen wichtig, die jeweiligen Suchtrisiken abzumildern und Schutzfaktoren zu stärken. Insbesondere das mittlere Lebensalter wird bislang zu wenig beachtet. Menschen im mittleren Erwachsenenalter werden in erster Linie als Multiplikator*innen aber kaum als Anspruchsgruppe mit eigenen suchtpräventiven Bedürfnissen in den Blick genommen. Dabei sind Menschen in dieser Lebensphase auf vielfältige Art und Weise mehrfachbelastet. Nicht umsonst gilt das Alter zwischen 30 und 50 Jahren als «Rush-Hour» des Lebens.
In dieser Lebensphase ist der Anteil der täglich Rauchenden denn auch besonders hoch (42,2% gemäss Suchtmonitoring
Schweiz 2017). Bei den Frauen zeigt sich zudem ein besonderes Muster: Zwischen 35 und 44 Jahren nimmt der Tabakkonsum kontinuierlich ab. Danach folgt aber ein Wiedereinstieg in den täglichen Tabakkonsum bei den 45- bis 64-jährigen Frauen. Der Lebensverlaufansatz schärft den Blick für solche differenzierten Konsumpfade und verlangt passende präventive Angebote.

Lebensverlauforientierte Prävention

Der Lebensverlaufansatz bietet neben der Zielgruppen- und Settingorientierung weitere wichtige Handlungsansätze für die Suchtprävention:

  • Analog zu Alter, Geschlecht/Gender,sozioökonomischem Status und Migrationshintergrund müssen die Herausforderungen der verschiedenen Lebensphasen in der Konzeption von Präventionsangeboten berücksichtigt werden.
  • Ansatzpunkte für die Suchtprävention bieten die normativen Übergänge in den verschiedenen Lebensphasen wie Schuleintritt, Berufsbeginn oder Pensionierung. An diesen Übergängen ist eine resilienz- und entwicklungsfördernde
    Stärkung in (sucht)präventiver Hinsicht besonders relevant. Das Ziel besteht darin, Menschen auf diese Phasen vorzubereiten, sie zu begleiten und somit zu gelingenden Lebensübergängen beizutragen.
  • Der Lebensverlaufansatz verlangt aufeinander abgestimmte Angebote. Dafür sind eine gute Zusammenarbeit und die Klärung der Schnittstellen erforderlich. Ebenfalls wichtig sind, eine vorausschauende Planung, die Vernetzung und die Kooperation mit anderen Akteuren und Institutionen.


Der Mehrwert einer lebensverlaufsorientierten Suchtprävention besteht darin, Menschen in allen Lebensphasen noch gezielter zu erreichen und die jeweils relevanten Risikofaktoren für problematisches Konsumverhalten zu mindern sowie Schutzfaktoren zu fördern.

Christa Berger (lic. Phil.) arbeitet als Stabsmitarbeiterin Grundlagen bei der Suchtpräventionsstelle der Stadt Zürich.

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