Kinder aus
suchtbelasteten Familien:
Ergebnisse der aktuellen Bestandesaufnahme. Ein schwieriges Thema verdient Beachtung
Angebote für Kinder aus suchtbelasteten Familien sind im Kanton Zürich vorhanden. Noch sind sie aber zu wenig bekannt und die Akteure zu wenig vernetzt.
Von Sabine Jenny
Kinder, die mit suchtkranken Eltern aufwachsen, gelten selber als Risikogruppe für eine spätere Suchtentwicklung. Sie sind seit einigen Jahren stärker ins Blickfeld der Suchtprävention gerückt. Seit Anfang 2016 beschäftigt sich eine Arbeitsgruppe im Verbund der Stellen für Suchtprävention im Kanton Zürich speziell mit dieser Zielgruppe: Der Arbeitsbereich «Suchtprävention bei Kindern und Jugendlichen aus suchtbelasteten Familien» soll dank den gewonnenen Erkenntnissen in den nächsten Jahren bedarfsgerecht weiterentwickelt werden. Um einen aktuellen Überblick über Angebote im Kanton Zürich zu erhalten, wurde eine Bestandesaufnahme in Auftrag gegeben. Der Ende August 2017 fertiggestellte Bericht zeigt, welche Angebote vorhanden sind, welche Lücken bestehen und welche Massnahmen das heutige Angebot ergänzen und verbessern könnten.
Für die Bestandesaufnahme wurden unterschiedliche Akteursgruppen befragt. Stationäre Angebote wurden nicht erhoben, und trotz eines breit angelegten Erhebungsdesigns ist nicht auszuschliessen, dass insbesondere niederschwellige Angebote lückenhaft erfasst wurden. Die gewonnenen Daten lassen jedoch eine seriöse Auswertung sowie daraus abgeleitete Empfehlungen zu.
Vielfältige Anstrengungen
Die Resultate der Bestandesaufnahme sind zunächst erfreulich. Im Kanton Zürich werden vielfältige Anstrengungen unternommen, um Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten Familien zu unterstützen. So existieren hoch spezialisierte Angebote für Betroffene seitens der Suchtberatungs- und der gendberatungsstellen sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. -psychologie. Während das kantonal verfügbare Angebot insgesamt als ausreichend beurteilt wird, sind regional aber deutliche Unterschiede auszumachen: Im Zürcher Oberland und in den Bezirken Andelfingen und Dielsdorf etwa fehlen vertiefende Behandlungsangebote. Bei der jetzigen Nachfrage wäre ein Ausbau der spezialisierten Angebote jedoch kaum sinnvoll. Viel eher muss darüber nachgedacht werden, ob und wie Regionen mit weniger gut ausgebautem Angebot vom bestehenden in anderen Regionen profitieren können. Dabei sind logistische Überlegungen wichtig. Wie kann beispielsweise bei einer – durchaus sinnvollen – Konzentration von Gruppenangeboten auf einzelne Standorte sichergestellt werden, dass betroffene Kinder aus anderen Gebieten sie ebenfalls nutzen können? Das beste Gruppenangebot nützt wenig, wenn etwa Kindergartenkinder, die noch nicht alleine Zug oder Bus fahren, den Treffpunkt der Gruppe nicht erreichen, weil niemand sie begleiten kann. Eine stärkere und verbindliche Vernetzung unter den Akteuren und eine bessere Bekanntmachung der bestehenden Angebote sind deshalb wichtige Empfehlungen, die im Bericht formuliert sind.
Weitere Handlungsfelder
Aus den Ergebnissen der Bestandesaufnahme lassen sich noch weitere Handlungsfelder identifizieren, in denen Entwicklungsmöglichkeiten bestehen: So gaben die Suchtpräventionsstellen an, dass es generell Anstrengungen braucht, um die betroffenen Kinder zu erreichen. Dies gelingt vor allem dadurch, dass Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sensibilisiert werden, wie sie betroffene Kinder und Jugendliche erkennen, und dass sie wissen, wo und bei wem sie sich die geeignete Unterstützung holen können und welche Informationen ihnen zu Hilfsangeboten zur Verfügung stehen. Die Sensibilisierung und Schulung, die bereits heute angeboten wird, sollte auch künftig eine wichtige Aufgabe bleiben. Sie könnte allerdings noch gezielter auf Schulsozialarbeitende, Jugendarbeit und schul- und familienergänzende Betreuungsfachleute ausgerichtet werden. Die dort tätigen Fachpersonen sind von ihrer Rolle her wichtige Ressourcen für betroffene Kinder. Laut ihren eigenen Aussagen fehle ihnen aber manchmal die nötige Sicherheit im Umgang mit dem schwierigen Thema. Besonders Schulsozialarbeitende, die in der Befragung grosses Interesse an einem Engagement zeigten, werden im konkreten Fall oft um Unterstützung angefragt, insbesondere von Lehrpersonen, Schulleitenden und schulergänzenden Betreuungsfachleuten.
Von den befragten Multiplikatoren selber werden als Wunsch Hilfsmittel wie Listen mit verfügbaren Angeboten sowie Handlungsleitfaden für Interventionen oder schwierige Gespräche genannt. Zweifellos vermitteln diese schriftlichen Hilfsmittel nützliche Informationen. Allerdings zeigt die Erfahrung von Suchtpräventionsfachleuten, dass erst eine vertiefte Auseinandersetzung, die in einer Weiterbildung erfolgen kann, zu wichtigen Erkenntnissen führt. Diese ermöglichen letztlich einen sicheren Umgang mit den betroffenen Kindern und Eltern, aber auch eine adäquate Nutzung der vorhandenen Hilfsmittel.
Zusammenarbeit unter Fachpersonen
Ein wichtiges Potenzial liegt in der verstärkten Zusammenarbeit der Fachpersonen, die Kinder von Sucht und/oder psychisch erkrankten Eltern beraten und begleiten. Die Belastungen in Familien mit einer Suchtproblematik sind denjenigen Belastungen ähnlich, die sich bei einer psychischen Erkrankung eines Elternteils zeigen: Beides sind Krankheiten und in beiden Fällen ergeben sich Konflikte, Spannungen und Schuldgefühle, um nur einige Aspekte zu nennen, unter denen betroffene Kinder leiden. Zudem treten bei suchtbetroffenen Menschen häufig zusätzlich psychische Erkrankungen auf. Belasteten Kindern psychisch kranker wie suchtbetroffener Eltern kann mit Aufklärung im Sinne von Information und Psychoedukation geholfen werden. Hier Synergien in Prävention und Behandlung zu nutzen, liegt also auf der Hand. Im Weiteren regen die befragten Expertinnen und Experten an, neue Angebote möglichst niederschwellig zu konzipieren. Zum Beispiel, indem Kinder und Jugendliche vermehrt mittels Webseiten und leicht verständlicher Filme über Suchtprobleme und Anlaufstellen informiert werden, damit sie nachfolgend einen leichteren Zugang zu Fachpersonen finden.
Notwendig: Öffentlichkeitsarbeit
Dem Anliegen nach besserer Aufklärung würde eine verstärkte Öffentlichkeits – arbeit dienen. Dies ist ebenfalls ein wichtiges Ergebnis der Befragung. Schamgefühle und die Angst, als suchtkranker Mensch als charakter- und willensschwach abgestempelt zu werden, machen es betroffenen Eltern oft schwer bis unmöglich, über ihre Sucht zu sprechen und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Bei Kindern können Schuldgefühle und die Angst, das System «Familie» zu verraten, verhindern, dass sie sich jemandem anvertrauen. Erst durch Enttabuisierung und Entstigmatisierung, also über eine offene Diskussion auf gesellschaftlicher Ebene, dürfte es gelingen, die Zielgruppe besser zu erreichen.
Auch wenn die Bestandesaufnahme zeigt, dass bereits Unterstützung für betroffene Kinder vorhanden ist, gibt es noch einiges zu tun. Dem Verbund der Stellen für Suchtprävention dient die Befragung als wichtige Basis für die (Weiter-)Entwicklung von Angeboten. Wie diese konkret aussehen, darüber wird zu gegebener Zeit informiert.
Sabine Jenny, lic. phil., MAE, Pflegefachfrau HF ist Koordinatorin Suchtprävention am Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention EBPI der Universität Zürich. Ihre Aufgabe ist, die Arbeit der regionalen Suchtpräventionsstellen und der kantonsweit tätigen Fachstellen im Kanton Zürich zu koordinieren, als Projektleiterin verschiedene Projekte zu betreuen, und sie ist Mitglied der Arbeitsgruppe «Kinder aus suchtbelasteten Familien».
Details zur Befragung
Mit einem Online-Fragebogen konnten alle Suchtpräventionsstellen des Stellenverbunds, 13 Suchtberatungsstellen, 7 Jugendberatungsstellen und 15 weitere Beratungs- und Behandlungsangebote im Kanton erreicht werden. Bei 10 Expertinnen und Experten, die auf kantonaler, nationaler oder europäischer Ebene tätig sind, wurden leitfadengestützte Telefoninterviews durch geführt. 575 Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, darunter Schulsozialarbeitende und -leitende, Lehrpersonen, Jugendarbeitende, Schul-, Kinder- und Hausärztinnen und -ärzte, ausserfamiliäre und schulergänzende Betreuungsfachleute sowie Schulpsychologinnen und -psychologen, wurden ebenfalls online befragt.