Selektive Prävention in der Praxis

Alternativen zur Giesskanne

Alle bekommen den gleichen Inhalt serviert: Prävention nach dem Giesskannenprinzip. Setzt man jedoch auf selektive Prävention, kommen verschiedene Zielgruppen ins Spiel – und damit auch die vulnerablen Gruppen.

Von Jana Avanzini

Dass nicht alle Menschen mit den gleichen Voraussetzungen ins Leben starten, ist keine Neuigkeit. Auch dass es Menschen gibt, die ein erhöhtes Risiko haben, an bestimmten Dingen zu erkranken. Oder dass Menschen durch bestimmte Ereignisse eher Gefahr laufen, eine Sucht zu entwickeln. Risikogruppen, nannte man sie lange. Heute nutzt man den Begriff der Vulnerabilität, Verletzlichkeit. «Es ist definitiv der sympathischere Begriff als Risiko beziehungsweise Risikogruppen», sagt Christa Berger von der Suchtpräventionsstelle der Stadt Zürich.

Drei Zielgruppen

Der Bezug zur Vulnerabilität entstand in den 1980er-Jahren durch den Psychologen und Psychotherapeuten Robert S. Gordon in Zusammenhang mit seiner Einteilung in unterschiedliche Zielgruppen. Gordon definierte zum einen die universelle Prävention, die alle gleichermassen anspricht – das Giesskannenprinzip. Des Weiteren sprach er von der indizierten Prävention, die das Individuum in den Fokus stellt, das bereits Suchtverhalten zeigt. Und schliesslich die selektive Prävention, die spezifisch auf vulnerable Gruppen zugeschnitten ist. «Gordons Einteilung in drei Zielgruppen hat die Präventionsarbeit differenziert», so Berger.
«Wichtig ist bei diesen Definitionen immer, dass vulnerabel nicht bedeutet, dass jemand bereits süchtig ist oder süchtig werden muss», merkt Christa Berger dabei an. Es gehe lediglich darum, damit Menschen zu bezeichnen, die eine höhere Anfälligkeit haben, eine Sucht zu entwickeln. Das könne an unterschiedlichen Faktoren liegen: an Erziehung und Prägungen durch Familie oder Umfeld, an Strukturen im Alltag, oder auch einer höheren Verwundbarkeit durch persönliche Erlebnisse, so Berger. «Es sind auf jeden Fall Gruppen in unserer Gesellschaft, die eine höhere Aufmerksamkeit verdienen», so erklärt es Gabriela Hofer von der Suchtprävention der Bezirke Affoltern und Dietikon.

Besonders Kinder im Fokus

Die grösste Gruppe, die man als vulnerabel einstuft und der in der Präventionsarbeit verhältnismässig viel Aufmerksamkeit zukommt, umfasst Kinder und Jugendliche aus Familien mit suchterkrankten Eltern. «Jedes siebte Kind in der Schweiz ist betroffen von den Belastungen durch Sucht ihrer engsten Bezugspersonen», so Hofer. Und ebendiese Kinder seien stärker gefährdet, später selbst süchtig zu werden. Ein Drittel dieser Kinder entwickle im Leben eine Sucht. Ein weiterer Drittel leide später an anderen Formen psychischer Erkrankungen. Und lediglich ein Drittel gehe in dem Sinne «unbeschadet» aus solchen Strukturen hervor.
Zu den vulnerablen Gruppen zählen beispielsweise auch Alleinerziehende – besonders solche mit vielen Kindern. «Auch Erwerbslosigkeit oder der Übergang in die Pension vermehrt gefährdende Faktoren – konkret der Verlust der alltäglichen Strukturen und Taktgeber», so Berger. Chronischer Stress und eine hohe physische Belastung – sei es zuhause oder im Job – zählen zu den Faktoren, die die Vulnerabilität erhöhen. Missbrauch und Gewalt, Armut oder chronische Krankheiten, auch Traumata durch Krieg oder Flucht sind weitere Risikofaktoren.

Wenn sich Faktoren potenzieren

Ein bestimmtes Mass an Stress und Rückschlägen vertrage der Mensch gut. «Doch es gibt bei allen den Punkt, wo es zu viel wird», meint Berger. Dann dürfe man nicht vergessen, dass bestimmte Menschen durch ihre Genetik oder durch ihren Charakter eher anfällig sind, stärker auf Suchtmittel anzusprechen. «Es ist beispielsweise bekannt, dass wir Frauen, sowie Menschen mit indigenen und asiatischen Wurzeln Alkohol schlechter vertragen», sagt Christa Berger.
Das Umfeld oder Strukturen, in denen man sich bewegt, können das Risiko einer Suchtentwicklung begünstigen oder verhindern. Als Beispiele nennt Gabriela Hofer die Arbeit im Gastgewerbe, wo eine grössere Zugänglichkeit zu Alkohol besteht, bestimmte Berufsbranchen, in denen Kokain dazugehört oder das Bier in der Pause. Und doch existiert kein vorgezeichneter Weg in eine Abhängigkeit und es ist nie möglich, eine Suchterkrankung vorauszusehen. Selbst wenn sich Risikofaktoren potenzieren, muss das nicht zwangsläufig bedeuten, dass jemand abhängig wird, es erhöht sich allenfalls die Wahrscheinlichkeit.

Hürden verhindern

Die grosse Herausforderung bei einer selektiven Präventionsarbeit besteht darin, die Menschen überhaupt zu erreichen, die man erreichen möchte. «Mit dem Giesskannenprinzip, mit Flyern, Artikeln und Mailings erreicht man oft gerade die Menschen, die sich sowieso schon interessieren, die reflektieren und sich informieren», so Hofer. Man erreiche die privilegierten Menschen, die Zeit haben, oft auch einen höheren Bildungsstand und die nötigen Finanzen.
Ein Beispiel dafür seien die klassischen Elternabende, sagt Christa Berger. Um daran teilnehmen zu können, brauche man einen freien Abend, Geld für einen Babysitter und so weiter. Um also die Eltern anzusprechen, die sich den Besuch eines Elternabends nicht leisten können oder den Sinn darin nicht sehen, muss man sie andernorts finden. Man versuche zum Beispiel, Elternangebote auch an Arbeitsplätzen bekannt zu machen oder bei sozialen Diensten, die Menschen mit geringem Einkommen besuchen. Oft wird auch über Angebote in Siedlungen die Hürde genommen – allenfalls gleich mit einem Kinderhütedienst dazu. Das Projekt Zeppelin im Bezirk Affoltern nennt Gabriela Hofer in diesem Zusammenhang. Dabei werden Eltern bei der Förderung ihrer Kinder zuhause unterstützt. Es wird darauf geachtet, welche Informationen Müttern und Vätern dabei helfen können, im Alltag mehr Abwechslung und Eindrücke für die Kinder einzubauen.

Brücken bauen

Ein Paradebeispiel für erfolgreiche selektive Präventionsarbeit sei das Projekt Femmes-Tische, das betonen sowohl Gabriela Hofer als auch Christa Berger. Das Projekt erreicht mittlerweile in der Schweiz jährlich über 10000 Menschen in mehr als 20 Sprachen.
Femmes-Tische, oder auch Männer-Tische, sind moderierte Gesprächsrunden zu unterschiedlichsten Themen, die in privaten Wohnzimmern stattfinden. Migrantinnen seien oft schwierig zu erreichen. Hier braucht es sogenannte Brückenbauer/innen oder Multiplikatoren. «Man arbeitet beispielsweise, um Migrant/innen anzusprechen, mit Schlüsselpersonen zusammen, die beide Sprachen sprechen, in ihrem Kulturkreis ein gutes Netzwerk besitzen und in ihren Communities respektiert werden», so Berger. Man spricht dann auch von Peers – nicht nur bei Jugendlichen, sondern in allen Gesellschaftsgruppen.
Ein weiteres Beispiel für ein erfolg-reiches selektives Präventionsprojekt für junge Erwachsene ist «be my angel to-night». Dabei sprechen junge Erwachsene Gleichaltrige an, die mit demAuto da sind, und motivieren sie dazu, vor Ort gleich zu verabreden, wer nach dem Ausgang wen nach Hause fährt. Dann wird vor Ort eine schriftliche Vereinbarung unterschrieben, dass diese Person an dem Abend keinen Alkohol trinkt und für die Freunde den Fahrdienst übernimmt. Im Gegenzug erhalten die registrierten «Angels» an der jeweiligen Veranstaltung – der Chilbi in Wetzikon zum Beispiel – alkoholfreie Getränke zu einem vergünstigten Preis. So muss man sich bei allen möglichen vulnerablen Gruppen separat anschauen, wie man sie erreichen kann.

Das Risiko der Stigmatisierung

Dass heute der Begriff der Vulnerabilität verwendet wird, hat viel damit zu tun, eine Stigmatisierung der betroffenen Gruppen zu vermeiden. Denn Suchtprävention und Stigmatisierung seien in unheilvoller Allianz miteinander verbunden, erzählt Berger. Und trotzdem ist es schwierig, vulnerable Gruppen nicht zu benennen, wenn man sie anzusprechen versuche, sagt Gabriela Hofer. Welche Begriffe man jedoch verwende, spiele dabei eine grosse Rolle. «Natürlich reicht es nicht, nur den Begriff zu ändern», sagt Christa Berger. Es gehe darum, wie man Menschen anspreche, dass man auf Augenhöhe und partizipativ kommuniziere, Vertrauen schaffe und zuhöre. Aber auch, dass man den Benefit eines Angebots aufzeigen könne. Denn oft bestehe ja kein Leidensdruck, es handelt sich nicht um Menschen mit Suchtproblemen. «Man muss Bedürfnisse abholen, nicht als Expertin mit Lösungen auftauchen für Probleme, die die Leute – noch – gar nicht haben. Wir müssen immer die Ressourcen und nicht die Probleme fokussieren», führt Hofer aus.
Bei der Pensionierung biete es sich beispielsweise sehr gut an. Da die Herausforderungen der Pension mittlerweile bekannt und akzeptiert seien und da viele Menschen sich zur Pension hin finanziell beraten lassen, können zusätzliche Angebote gut aufgenommen werden. Auch hier sei es entscheidend, den Fokus im Auge zu haben, so Berger. «Es geht darum, Ressourcen zu stärken, zu aktivieren, und den Personen bewusst zu machen, dass so ein Wechsel auch Chancen und Möglichkeiten bietet.»

Das heikle Schuld-Thema

Wichtig sei, dass man die Menschen durch die selektive Prävention nicht in eine Risiko-Schublade stecke. Denn das könne die psychische Belastung noch verstärken, erklärt Gabriela Hofer: «Wenn ich das Gefühl bekomme, ein Risikofaktor für meine Kinder zu sein, ist das extrem kontraproduktiv. Dass ich wegen meiner Armut oder meinerTrennung Schuld daran habe, dass meine Kinder süchtig oder krank werden könnten.»
Eigentlich müssten viele der Angebote schlicht zum guten Ton gehören, so Hofer. Wie bei der Mütter- und Väter-Beratung. «Wenn etwas gesellschaftlich anerkannt ist und es alle nutzen, dann fällt die Stigmatisierung weg.» Dann gebe man niemandem das Gefühl, dass er oder sie etwas benötige, das andere nicht brauchen. Oder dass sie etwas nicht selbst können, die anderen aber schon. Man muss nicht immer mit den Menschen direkt suchtpräventiv arbeiten, sagt auch Christa Berger. Bei Familien oder Kindern, die in anderen Zusammenhängen bereits gut begleitet werden, sei es durch einen Sozialdienst oder schulische Zusatzangebote, kann es sinnvoller sein, die entsprechenden Fachleute zu sensibilisieren und Informationsmaterial über diese Kanäle weiterzuverbreiten.

Einsamkeit – eine Knacknuss

Doch meist brauche es einen Zusatzeffort, um mit allen Menschen in Kontakt zu kommen. So besonders auch, um die Menschen zu erreichen, die unter Einsamkeit leiden. «Einsamkeit ist eine grosse Knacknuss – gerade im Alter», so Hofer. Hier wird in einigen Gemeinden nun mit aufsuchender Altersarbeit entgegengewirkt. Dabei werden Menschen ab einem gewissen Alter zuhause besucht, um Bedürfnisse zu erkennen und Angebote vorzustellen. Andere Gemeinden, wie beispielsweise Horgen, bauen Siedlungsassistenzen auf, die ihr Büro in der Siedlung selbst haben und damit Beziehungen und Nähe aufbauen können. «Angebote sind oft zu mittelschichtsorientiert, nicht nur in der Präventionsarbeit, sondern in sehr vielen Bereichen unserer Gesellschaft. Deshalb entwickeln wir neue, innovative und niederschwellige Formate, um vor Ort mit den Menschen in den Dialog zu kommen», begründet Christa Berger. Der Aufbau solcher Projekte kann aufwändig sein und verlangt nicht nur von Gemeinden und Sozialdiensten eine Bereitschaft, sich auf neuartige Angebote einzulassen und sich ein Verständnis für die selektive Prävention zu erarbeiten. Aber es lohne sich, andere Zugänge auszuprobieren und die Ressourcen zu bündeln, damit vulnerable Menschen direkt von der Prävention profitieren können, darüber sind sich beide Fachfrauen einig.

Jana Avanzini ist freischaffende Journalistin und Co-Redaktionsleiterin des Kultur- und Satiremagazins «Kultz».

Weitere Angebote der Stellen für Suchtprävention im Kanton Zürich

Für Eltern/Jugendliche

  • Bedarfsorientierte Einzel- und Gruppengespräche bei riskantem Konsum von Tabak, Alkohol, Cannabis oder Onlinemedien (Games, Social Media).


Für Schulen

  • Beratung und Coaching von Schlüsselpersonen (Lehrpersonen, SSA, SL)
  • Angebote zu Früherkennung und Frühintervention.
  • Kurse in Motivierender Kurzintervention (Move) für Schulsozialarbeitende und Schulteams.

 

In einzelnen Regionen zusätzlich diese Angebote:

  • Gezielte Klasseneinsätze aufgrund eines Ereignisses. Arbeit mit Schülergruppe(n) bezüglich Risikoeinschätzung und Konsumverhalten.
  • Motivierende Gruppenkurzintervention «Rauschtrinken» an Kantonsschulen oder weiterführenden Schulen.

 

Für Sozial- und Jugendarbeitende, Frühbereich und weitere Interessierte

  • Kurse in Motivierender Kurzintervention (Move).
  • Angebote zu Früherkennung und Frühintervention.

Kontakt zur Stelle in Ihrer Region

 

Jana Avanzini ist freischaffende Journalistin und Co-Redaktionsleiterin des Kultur- und Satiremagazins «Kultz».

laut & leise 2021-02 | Selektive und indizierte Prävention

Verletzlichkeit

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