Suchtprävention im Alterszentrum:
Weniger Mittel, mehr Würde
Das Wissen, dass Schlafmittel und Beruhigungsmittel schon nach vier Wochen süchtig machen können, ist immer noch zu wenig bekannt. Umso wichtiger sind die Angebote für die Spitex, die Alters- und Pflegeheime und für Seniorenanlässe, wo darüber gesprochen wird.
Von Jana Avanzini
Spricht man von Suchtprävention, denkt man an Jugendliche, an Alkohol und Zigaretten. Medikamente hingegen und die Suchtgefahr im Alter bleiben oftvergessen. KeinWunder: Denn obwohl bekannt ist, dass Sucht keine Frage des Alters ist, ist Sucht doch im Alter noch oft ein Tabu. «Leider braucht es den konkreten, sichtbaren Fall, damit in der älteren Generation über Sucht gesprochen wird», sagt Gabriela Hofer. Bei der Suchtpräventionsstelle der Bezirke Affoltern und Dietikon angestellt, ist die Präventionsfachfrau seit vier Jahren für das Thema Sucht im Alter in 25 Gemeinden im Kanton Zürich verantwortlich. Dieser Teil ihrer Arbeit umfasst auch regelmässigeVeranstaltungen für die Bevölkerung. Etwas, das die Suchtprävention eher selten tut. In den anderen Altersgruppen arbeitet man mehrheitlich mit sogenannten Multiplikatoren – mit Lehrern oder Jugendarbeiterinnen, die bereits einen Bezug zu den betroffenen Menschen haben. An Events, die von Seniorenräten oder Gemeindegruppen organisiert werden, informiert Gabriela Hofer.Bei Kaffee und Kuchen trifft sie dort selbst in kleinen Ortschaften auf gutbesuchte Anlässe mit 30 bis 80 Personen. «Die älteste Generation spricht sehr gut auf Informationsveranstaltungen an», so Hofer. «Seniorinnen und Senioren sind ein interessiertes Publikum, das sich für solche Veranstaltungen die Zeit nimmt und unsere Angebote regelmässig nutzt.»
Sinn statt Sucht
Die Art der Kommunikation ist dabei äusserst relevant. In den Titeln ihrer Veranstaltungen und Broschüren arbeitet Hofer nie mit dem Begriff Suchtprävention. «Da würde sich niemand angesprochen fühlen », sagt sie. Und selbst wenn, würde die Person sich wohl kaum die Blösse geben, aufzutauchen und sich damit praktisch zu outen. «Man spricht die Suchtthematik deshalb unter positiveren Schlagworten wie Lebensqualität oder Lebenszufriedenheit an», erklärt Gabriela Hofer.
Neben sozialen Beziehungen, Sinnhaftigkeit, Körperlichkeit und Psyche kommt dann fast nebenbei auch das Thema Medikamente und Alkohol zur Sprache. Eine Hauptbotschaft dabei lautet: Der Körper verändert sich im Alter. Keine Überraschung natürlich, das wissen alle. Doch was dies alles bedeutet, bleibt oft unbekannt. Wie beispielsweise: Der Wasserhaushalt im Köper sinkt. Leber und Nieren arbeiten nicht mehr so schnell und effizient. So kann der Körper gewisse Stoffe nicht mehr gleich schnell abbauen. Wirkstoffe von Medikamenten kumulieren sich, wodurch es zu einer Art Überdosis kommen kann – gerade bei Das Wissen, dass Schlafmittel und Beruhigungsmittel schon nach vier Wochen süchtig machen können, ist immer noch zu wenig bekannt. Umso wichtiger sind die Angebote für die Spitex, die Alters- und Pflegeheime und für Seniorenanlässe, wo darüber gesprochen wird. Von Jana Avanzini Suchtprävention im Alterszentrum Weniger Mittel, mehr Würde Schlaf- und Beruhigungsmitteln.Auch mit wenigen Gläsern Alkohol kommt man nun dem Rauschtrinken nahe. Zudem verändert sich der Schlaf, beispielsweise schläft man weniger einfach ein und durch. Oft ist die logische Konsequenz: ein Medikament. Nach einem Spitalaufenthalt noch einweiteres dazu, dann noch einesvon der Apotheke – ein unübersichtlicher Cocktail kann entstehen. In den Veranstaltungen empfiehlt Gabriela Hofer deshalb auch, mit der Hausärztin oder dem Apotheker zu prüfen, wie sich die Mittel vertragen.
Götter in Weiss
Eine weitere Schwierigkeit bei Medikamenten und ihren Nebenwirkungen sei, dass diese oft mit altersbedingten Symptomen übereinstimmen und deshalb nicht erkannt werden. Selbst Ärzte würden dies oft nicht erkennen und Schlafstörungen oder Stürze darunter abhaken. Gabriela Hofer beobachtet auch, dass die älteren Generationen Medikamenten gegenüber grundsätzlich weniger kritisch urteilen. «Ärzte sind noch immer Götter in Weiss», fasst sie zusammen. Da werde selten hinterfragt oder eine Alternativen geprüft. Was der Arzt oder die Ärztin sagt, das gilt. Auf den eigenen Körper zu hören, darauf, was ihm guttut, auf Unwohlsein oder auf psychische Schwierigkeiten zu achten und sie ernst zu nehmen, haben ältere Generationen oft nicht gelernt. Deshalb spricht man auch nicht darüber. «Fragen werden wohl auch deshalb bei den Veranstaltungen selten zur Suchtthematik gestellt», erzählt Gabriela Hofer. Dafür bedienen sich ältere Veranstaltungsteil- Eine Hauptbotschaft lautet: Der Körper verändert sichim Alter. Keine Überraschung natürlich, das wissen alle. Doch was dies alles bedeutet, bleibt oft unbekannt. 16 Suchtprävention laut & leise, Juli 2020 nehmende aussergewöhnlich gerne bei Broschüren. «Da sehe ich auch, dass ein Interesse und Bewusstsein entsteht – auch wenn man es im persönlichen Gespräch nicht zeigen würde», sagt sie.
Ein Prozess für alle
Heidi Zimmermann Heinrich, Präventionsfachfrau der Suchtprävention Zürcher Unterland, begleitet Alterszentren dabei, Suchtprävention einerseits in ihren betrieblichen Ablauf und zur Qualitätsentwicklung zu integrieren und andererseits stärker im Bewusstsein der Mitarbeitenden, der Bewohnerinnen und Bewohner zu verankern. «Die Ziele sindder Kompetenzgewinn für die Angestellten und der Gewinn von Lebensqualität für die Klientinnen und Klienten», so Zimmermann. Konkret umgesetzt heisst das: Heidi Zimmermann führt Gespräche mit der Leitung derAlterseinrichtung und arbeitet anschliessend mit einer Projektgruppe über mehrere Monate. Dabei wird in rund zehn Arbeitstagen ein vertieftes Wissen zu Themen wie Prävention, Früherkennung, Suchtentwicklung und Gesprächsführung mit den Fachpersonen der Institution aufgebaut. Gemeinsam werden Konzepte und Leitfäden für den Betrieb erstellt, massgeschneidert entwickelt. «Dies ist wichtig, damit die Umsetzung hinterher keinen Mehraufwand bedeutet. Wir wollen Abläufe vereinfachen und in den interdisziplinären Prozess des Betriebs einbeziehen», erklärt Zimmermann. «Durch den ganzen Prozess sensibilisieren und qualifizieren wir die Leute derArbeitsgruppe und befähigen sie dazu, anschliessend ihr Wissen an Mitarbeitende weiterzugeben.» Wichtig sei deshalb auch die Zusammenstellung der Arbeitsgruppe. «Es gehören junge und erfahrene Mitarbeitende derPflege dazu,Angestellteaus der Zentrumsleitung sowie aus weiteren Bereichen des Betriebs – der Cafeteria oder der Reinigung», sagt Zimmermann.
Die Diskussionen innerhalb des Prozesses seien äusserst wichtig. «Es muss eine Auseinandersetzung passieren – mit den Themen Sucht, Selbstbestimmung, Krisen.» Meist würden dazu viele Fragen auftauchen. Über diese lasse sich bald erfassen, was beschäftigt und belastet. In Gesprächen mit Heimpersonal sei die Dringlichkeit der Thematik spürbar. «Oft hängen konkrete Geschichten von früher nach. Man hätte gerne anders gehandelt, war im Dilemma mit eigenen Werten und Vorstellungen, konnte nicht nachvollziehen, weshalb wie entschieden wurde», so Zimmermann. Oft ergeben sich ethische Konflikte und Diskussionen aus dem unterschiedlichen Fachwissen und den persönlichen Haltungen des Personals. Nicht nur die Form der Ausbildung, sondern auch, in welchem Jahrzehnt jemand diese absolviert habe, in welchem Land, oder auch aus welcher Kultur jemand stamme, habe Einfluss auf die Haltung und den Umgang mit Suchtmittelmissbrauch. «In der Arbeitsgruppe soll deshalb eine gemeinsame Kultur entstehen», sagt Heidi Zimmermann. «Auch für neue Angestellte geben die entwickelten Instrumente Sicherheit und Klarheit, wie suchtgefährdete Bewohnerinnen und Bewohner betreut werden.» Unklarheiten seien für Mitarbeitende unangenehm, denn sie binden Zeit und vor allem Energie.
Begleitung in Krisenzeiten
Das direkte Ansprechen von Suchtmittelkonsum könne schnell heikel werden und eine abwehrende Haltung auslösen. Deshalb sei auch die Art der Gesprächsführung
ein wichtiger Punkt in der Suchtprävention. «Motivational Interviewing», motivierende Gesprächsführung für Verhaltensänderung, nennt sich dieser Bereich der Weiterbildung. Und auch Zimmermann betont in diesem Zusammenhang, wie eminent die Wortwahl sei. «Eine so genannte Fachgruppe Sucht ist bestimmt nicht ratsam», sagt Zimmermann. Damit konfrontierte Klientinnen und Klienten würden schnell abblocken. Man nenne sie deshalb «Fachgruppe Gesundheitsförderung» oder «Lebensqualität», um das Wohlergehen in den Fokus zu rücken und eine mögliche Stigmatisierung zu umgehen.
Zudem sei es wichtig, Suchterkrankung und Suchtgefährdung sprachlich zu unterscheiden. Riskanter Konsum von Alkohol und vermehrte Einnahme von Schmerz- oder Beruhigungsmitteln sind in einer schwierigen Zeit wie dem Heimeintritt, Weihnachten oder dem Tod von Nahestehenden bei Bewohnerinnen und Bewohnern eher sichtbar. In einer solchen schwierigen Zeit sei eine eingehende Pflegeanamnese sinnvoll. «Es ist wichtig, sich die Zeit dafür zu nehmen, einen Menschen mit seinen Ressourcen und Risiken wahrzunehmen», so Zimmermann. Dazu gehört, dass man die Haltung einer Person kennt, ihre Sorgen, Gewohnheiten, Bewältigungsstrategien, Wünsche und Interessen. Dieses Wissen hilft Fachpersonen, körperliche, soziale und emotionale Veränderungen bei Betroffenen klarerwahrzunehmen. Meistens bringen neue Bewohnerinnen und Bewohner bei Eintrittin ein Heim auch mehrere Medikamente mit. Zimmermann erzählt: «Ist das Pflegefachpersonal informiert, wird eher veranlasst, dass die Medikamente durch die Apotheke oder die internen Heimärzte überprüft werden.»
Es sei auch wichtig, ein sensibles diagnostisches Auge zu entwickeln,wenn sich jemand verändere, zum Beispiel schläfrig, fahrig wirke oder unsicher gehe. Dazu gehöre neben gerontologischem und medizinischem Fachwissen auch der Einsatz eines Erfassungsbogens. Dieser unterstützt die Früherfassung von Symptomen und den weiteren Begleitungsprozess. «So, dass medikamentöse Nebenwirkungen oder Missbrauch von Suchtmitteln von anderen Krankheiten mit ganz ähnlichen Symptomen wie Depression, Entgleisung einer Diabetes oder einer dementiellen Entwicklung unterschieden werden können.» Forschungen zeigen, dass ältere Menschen auf fachliche Behandlung anders und noch besser ansprechen als jüngere und ihre Lebensqualität dadurch steigt. Diese betrieblichen Prozesse fördern die Gesundheitskompetenz von Einzelnen und von Teams.
Nachhaltiger Weg
Das Team desAlterszentrums Gibeleich in Glattbrugg hat die Weiterbildung in sehr positiver Erinnerung. Der Leiter des Alterszentrums, Adrian Burri, bezeichnet den Prozess als «Win-win-Situation». Die Arbeitsgruppe habe die Möglichkeit gehabt, sich richtig darauf einzulassen, mal eine Schlaufe zu machen, Instrumente zu entwickeln und zu ergänzen.
Weiterbildungen in Alterszentren seien stets Thema, «denn das Alter ist hochkomplex und wird oft unterschätzt», so Burri. Die grossen Herausforderungen – durch die Veränderung der Physiologie, durch Krankheiten, Medikamente und Sucht – seien in seinem beruflichen Alltag stets präsent. Über eineinhalb Jahre wurde hier in der Präventions-Projektgruppe gearbeitet. Das sei jetzt schon eine Weile her, dass sie die Leitbilder überarbeitet und Prozessabläufe erstellt hätten. Doch gerade mit der Distanz sehe er, wie nachhaltig der Prozess gewesen sei. «Nach wie vor nehme ich unsere Mitarbeitenden spürbar sensibilisiert für das Thema wahr», sagt er. Besonders die Arbeit mit dem Forumtheater als Teil einer Weiterbildung, wo Schauspielerinnen und Schauspieler heikle Situationen darstellten und Reaktionen der Mitarbeitenden abholten, ist ihm prägend in Erinnerung geblieben. Einiges aus der Zeit werde noch heute weiterentwickelt – gerade die Anwendung von komplementärmedizinischer Behandlungspflege im Rahmen der Früherkennung und Frühintervention von Beschwerdebildern wie beispielsweise Schlafstörungen, Verdauungsbeschwerden, Husten, Schmerzen. Die entwickelten Fragenkataloge für die Mitarbeitenden und die schriftliche Selbsteinschätzung der Klientinnen und Klienten beim Eintritt hätten sich mehr als bewährt.
Er beobachte immer wieder Fortschritte und eine erhöhte Lebensqualität bei Personen, die mit einer Abhängigkeit gelebt hatten. Denn oft sei die Selbstkontrolle durch Rauschzustände eingeschränkt gewesen, auch die Interaktion mit anderen Menschen durch Schlaf- und Beruhigungsmittel. Instrumente zu haben, die Alternativen bieten und den Weg weg davon vereinfachen, sei äusserst wichtig, so Zimmermann. «Ich sehe, dass Menschen dadurch Würde zurückbekommen.»
Jana Avanzini ist freischaffende Journalistin und Theaterschaffende.